Aus unserem BLOG • Von Dehlia Willemsen • Mai 2022

Automatisiert und sicher in der Lkw-Kolonne – Platooning wird Realität in Europa

März 2022 Autoworld Brüssel – Das EU-Projekt ENSEMBLE stellt die Ergebnisse seiner fast vierjährigen Arbeit vor, bei dem 19 Partner entlang der Automotive Manufacturing Chain an den Start gingen, um den Weg für das Multi-Brand Truck-Platooning zu ebnen. Unter Platooning ist das automatisierte Fahren in Kolonnen mit mehreren Fahrzeugen und damit als besondere Form der automatisierten und vernetzten Mobilität zu verstehen. Mit dem ambitionierten, von der Europäischen Union mit 20 Mio. Euro unterstützten Konsortialprojekt konnte ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu mehr Sicherheit, mehr Nachhaltigkeit und optimiertem Verkehrsfluss im Gütertransport erreicht werden: die markenübergreifende Harmonisierung der Platooning-Technologie.

Zukunftsweisende Technologien bündeln – Forschungsexzellenz trifft auf Innovationskompetenz europäischer Nutzfahrzeughersteller

Technologische Innovationen bündeln und dies über Marken hinweg – hier lag die Herausforderung, der sich das europäische Team aus Wissenschaft und Forschung, Lkw-Herstellern und Zulieferindustrie stellte. Bis zum Projektauftakt in 2018 konnten unterschiedliche Truck-Hersteller zwar schon aufzeigen, dass Platooning möglich ist, z. B. im Rahmen der European Truck Platooning Challenge in 2016. Doch brachte jeder Hersteller dabei seine individuell entwickelten Technologien zum Einsatz, wie beispielsweise markenindividuelle Fahrzeug-zu-Fahrzeug-Kommunikationsprotokolle (V2V-Kommunikation).

Im länderübergreifenden EU-Projekt ENSEMBLE traten unter der Leitung der niederländischen Organisation für angewandte Wissenschaft TNO alle europäischen Lkw-Hersteller – DAF, Daimler Trucks, Iveco, Man trucks & bus, Renault Trucks, Scania und Volvo Trucks – gemeinsam an, die erforderliche Technologie zu vereinheitlichen, so dass die Fahrzeuge im Ergebnis „dieselbe Sprache sprechen“. Auf Seiten der Automobilzulieferer waren zudem die Unternehmen Bosch, Continental, ZF, NXP und Brembo sowie die European Association of Automotive Suppliers CLEPA eingebunden. Die Forschungspartner IDIADA, Université Gustave Eiffel, KTH und Vrije Universiteit Brussel übernahmen im Konsortium die Testungen und analysierten die unterschiedlichen Effekte von Platooning. Den Transfer der gewonnenen Erkenntnisse in die Platooning-Community stellte die europäische Organisation Intelligent Transportation System (ITS) ERTICO sicher.

Welche Funktionen will das ENSEMBLE-Platooning auf die Straße bringen?

ENSEMBLE hat zwei Platooning-Funktionen definiert: Zum einen das fahrerunterstützte Platooning – Platooning as a support Function, PSF – und darüber hinaus das autonome Platooning – Platooning as an Autonomous Function, PAF.

Die erste Funktion PSF sollte dabei schnell einsetzbar sein, da hier der/die Fahrer*in verantwortlich für die Fahraufgabe bleibt. Die PSF unterstützt und regelt, ähnlich wie ein Abstandsregeltempomat (Adaptive Cruise Control – ACC), die Distanz zum Vorderfahrzeug. Da hier V2V-Kommunikation zur Anwendung kommt, ist die PSF jedoch sicherer als ACC, da sie auf starke Bremseingriffe im Vorderfahrzeug schneller reagieren kann. Ein wichtiger Aspekt, wenn es darum geht, mithilfe von Platooning Bremswellen zu vermeiden, um Verkehrsströme zu optimieren.

Die PAF gibt einen mit allen Partnern abgestimmten Ausblick, wie das Platooning der Zukunft aussehen kann mit entsprechend weiterentwickelter Technologie beim automatisierten Fahren. Hier gibt es dann nur noch im ersten Fahrzeug der Kolonne einen/eine Fahrer*in, die Folge-Lkws schließen fahrerlos und vollautomatisiert auf. Damit ist diese Funktion als Zwischenschritt zum vollständig autonomen Fahren einzuordnen.

Vorerst werden Fahrzeuge mit der PAF nur auf festgelegten Stecken im sogenannten ‚Hub-to-Hub‘-Betrieb fahren, wobei sie hauptsächlich auf der Autobahn verkehren und nur kurze Strecken zwischen Autobahn und dem jeweiligen ‚Hub‘ zurücklegen. Vorteile durch die PAF verspricht man sich vor allem in den Bereichen Fahrereffizienz und Kraftstoffeinsparung.

Für beide Funktionalitäten wurden mit allen beteiligten Partnern Spezifikationen aufgestellt. Eines der wichtigsten Ergebnisse des Projektes ist dabei das V2V-Kommunikationsprotokoll. Es definiert nicht nur die Informationsinhalte und wie bzw. wann diese übertragen werden sollen, sondern gibt zudem ein stringentes Datensicherheitsmodell vor, das den geschützten Datenaustausch unter den Fahrzeugen im Platoon gewährleistet. Das Modell greift dazu auf existierende Mechanismen zurück, wie z. B. das PKI (Public Key Infrastructure) von ITS-G5. Zusätzlich kommt symmetrische und asymmetrische Verschlüsselung zum Einsatz.

Auf dem Testgelände und im Realverkehr – Sieben europäische LKW-Hersteller gemeinsam auf Achse

Zur Verifizierung der technischen Durchführbarkeit, aber auch um die Standardisierung zu beschleunigen, wurde die PSF bei allen Lkw-Herstellern erfolgreich implementiert und getestet. Die PAF konnte bisher noch nicht integriert und in den Testbetrieb genommen werden. Hier gilt es, kurz- bis mittelfristig die Entwicklungspotentiale für die erforderlichen Technologien zu heben, um auch hier in die Anwendung kommen zu können. Die Definition der PAF basiert daher zurzeit vorwiegend auf theoretischen und visionären Überlegungen.

Das Testen der PSF wurde zunächst in kleineren Formationen von zwei bis zu vier Lkws der unterschiedlichen Partner durchgeführt. Insgesamt neun Testrunden absolvierten diese kleineren Gruppen und ließen sich dabei nur selten von „Pandemie-bedingten Bremsmanövern“ aus der Projekt-Spur bringen. Das finale Testing fand im September 2021 in Spanien statt, bei dem zum ersten Mal alle Lkws der sieben Hersteller am Start waren, um die PSF sowohl auf einem Testgelände als auch unter realen Verkehrsbedingungen im öffentlichen Verkehrsraum zu erproben. Die Fachbesucher*innen der erfolgreichen Testfahrt zeigten sich entsprechend begeistert im Rahmen der „Public Demonstration“ am 23. September 2021 in Barcelona.

Die gewonnenen Testergebnisse wurden in die diversen, projektseitig definierten Effektanalysen eingespielt. Zusammenfassend lassen sich folgende Effekte des Platoonings festhalten

  • Die Konnektivität des Platoons kann Straßenverkehrsbehörden effektiv bei der Steuerung des Platoons unterstützen, indem diese z. B. die Geschwindigkeit, den Folgeabstand oder auch die Anzahl der Fahrzeuge im Platoon vorgeben.
  • Schon heute könnten mindestens 15 % aller Lkws im Platoon fahren ohne weitere Anpassungen an Routen- oder Zeitplanung.
  • Der Einsatz der PSF-Funktionalität bringt insbesondere Vorteile bei der Verkehrssicherheit und Verkehrsauslastung auf den Straßen.
  • Durch die Implementierung der PAF-Funktionalität ließen sich – vor allem vor dem Hintergrund des bestehenden Fachkräftemangels – erhebliche wirtschaftliche Effekte generieren, da der Einsatz qualifizierten Personals deutlich reduziert werden kann.
  • Der positive Einfluss des Platoonings auf die Verkehrsströme nimmt in Relation zur steigenden Präsenz an Lkws natürlich zu. Hier ist allerdings zu berücksichtigen, dass bei Autobahn-Einfahrten auch Negativeffekte auftreten können, vor allem wenn der einfädelnde Verkehr langsamer fährt und der Folgeabstand zwischen den Lkws im Platoon gering ist.

19 Partner – 1 Ziel:
Innovative Mobilitätslösungen brauchen gut vernetzte kreative Köpfe

Automatisierung und Vernetzung bieten große Potentiale, das Mobilitätsangebot zu verbessern und den Verkehr besser, sicherer und sauberer zu machen. Die Erforschung, Entwicklung und Inbetriebnahme neuer Mobilitätsangebote sowie automatisierter Fahrzeuge braucht die enge Zusammenarbeit vieler Beteiligter. Mit dem innocam.NRW Kompetenzatlas können Akteure die für ihr Anliegen passenden Partner finden und gemeinsame Projekte initiieren.