Barrieren brechen: Fahrzeugautomatisierung aus Sicht von Menschen mit Behinderungen

Bild von Bernd Hildebrandt auf Pixabay

Aus unserem BLOG • Von Justyna Sedkoswka, innocam.NRW • September 2024

Transport ist mehr als nur ein Mittel, um von A nach B zu kommen – es ist ein entscheidender Aspekt der Unabhängigkeit, der sozialen Integration und des Zugangs zu wichtigen Dienstleistungen. Für Menschen mit Behinderungen birgt die Verkehrswelt jedoch eine Reihe von Herausforderungen, die ihre Lebensqualität weiter einschränken können. Die aufkommende Fahrzeugautomatisierung bietet eine vielversprechende Möglichkeit, den Verkehr für Menschen mit Behinderungen zu revolutionieren. Der Weg zu einem barrierefreien, vernetzten und automatisierten Verkehr ist jedoch voller Herausforderungen. In diesem Artikel gehen wir auf die Probleme ein, mit denen Menschen mit Behinderungen heute konfrontiert sind, und zeigen, wie die Automatisierung von Fahrzeugen zu neuen Lösungen führen kann.

Aktuelle Herausforderungen im Verkehr für Menschen mit Behinderungen

Obwohl eine Behinderung nicht unbedingt bedeutet, dass eine Person nicht in der Lage ist, ein Auto zu fahren, sind viele Menschen mit Behinderungen aus wirtschaftlichen oder körperlichen Gründen auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. In einer Videodokumentation hat der WDR einen Rollstuhlfahrer auf seinem typischen Weg durch die Stadt mit öffentlichen Verkehrsmitteln begleitet. Das Video zeigt, wie schwierig es für Menschen mit Bewegungseinschränkungen sein kann, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, und wie hart die Realität sein kann, mit einer Behinderung zu leben. Laut Europäischer Kommission ist eine der offensichtlichsten Barrieren für Menschen mit Behinderungen im öffentlichen Verkehr die physische Unzugänglichkeit. Es gibt zwar Bemühungen, den öffentlichen Verkehr zugänglicher zu machen, aber viele Systeme sind immer noch unzureichend.  Viele U-Bahnhöfe oder Bahnhöfe wurden gebaut, lange bevor Zugänglichkeit eine Priorität war. Daher kann es für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen schwierig sein, sich in öffentlichen Verkehrsmitteln zurechtzufinden .

Zusätzlich können existierende Rampen oder Aufzüge defekt sein, so dass Menschen, die keine Treppen steigen können, in eine schwierige Situation geraten, wie im WDR-Video, aber auch in der Publikation von König et al. (2021) deutlich wird. Auch Busse, Züge und Straßenbahnen können hohe Stufen oder schmale Einstiege haben, die das Einsteigen für Rollstuhlfahrende oder Menschen mit anderen Mobilitätshilfen erschweren oder unmöglich machen (Guillén et al., 2024). In solchen Fällen ist die behinderte Person in der Regel auf die Hilfe anderer Personen oder des Fahrpersonals angewiesen.

Ein weiterer Faktor kann sein, dass öffentliche Verkehrsmittel überfüllt sind und Menschen mit Behinderungen wenig Platz zum Manövrieren lassen. Menschen mit Seh- und Hörbehinderungen oder geistige Behinderungen haben Schwierigkeiten, sich in solchen Umgebungen zurechtzufinden und es kann sein, dass die Plätze für Rollstuhlfahrer:innen besetzt sind (König et al., 2021). Hinzu kommt, dass öffentliche Verkehrsnetze oft nicht bis in ländliche oder weniger dicht besiedelte Gebiete reichen (Frank et al., 2021), was Menschen mit Behinderungen überdurchschnittlich hart treffen kann.

Diese Herausforderungen des “traditionellen” öffentlichen Personenverkehrs können Menschen mit Behinderungen isolieren und ihnen den Zugang zu wichtigen Dienstleistungen oder die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben erschweren.

Das Versprechen der Fahrzeugautomatisierung

Studien haben gezeigt, dass Menschen mit Behinderungen, insbesondere diejenigen, die nicht selbst Auto fahren können, das Potenzial von automatisierten Fahrzeugen zur Lösung ihrer Mobilitätsprobleme im Allgemeinen optimistisch einschätzen. Eine Umfrage von Cordts et al. (2021) ergab, dass die Mehrheit der Befragten mit körperlichen Behinderungen hofft, dass autonome Fahrzeuge sowohl im privaten als auch im öffentlichen Verkehr effizient eingesetzt werden können. Dieser Optimismus spiegelt die allgemeine Erwartung wider, dass autonome Fahrzeuge ihre Fähigkeit zur selbstgesteuerten Fortbewegung und damit ihre Lebensqualität verbessern könnten.

Die Perspektive von Menschen mit Behinderungen ist für die Entwicklung der Fahrzeugautomatisierung von zentraler Bedeutung, damit diese Technologie einen Beitrag zur Lösung ihrer Mobilitätsprobleme bieten kann. Trotz des allgemeinen Optimismus bringt die Vollautomatisierung auch Herausforderungen mit sich, insbesondere für Fahrgäste, die gefährdet sind oder Hilfe benötigen. In traditionellen öffentlichen Verkehrssystemen spielen Fahrer:innen und weiteres Personal eine entscheidende Rolle bei der Unterstützung von Fahrgästen mit Behinderungen, sei es durch körperliche Hilfe, Anleitung oder einfach durch die Vermittlung eines Gefühls der Sicherheit. Der Wegfall des Fahrpersonals in vollautomatisierten Systemen kann eine Lücke in der Unterstützung dieser Fahrgäste hinterlassen und damit die Vorteile der Automatisierung konterkarieren (Millonig et al., 2018). Dies unterstreicht, wie wichtig es ist, automatisierte Fahrzeuge und die dazugehörige Infrastruktur so zu gestalten, dass sie auch ohne menschliche Fahrer:innen angemessen unterstützt werden können. Escher et al. (2024) stellen dabei heraus, dass die Einbeziehung der übrigen Fahrgäste für einige Situationen eine Lösung sein kann, jedoch stark vom Kompetenzempfinden der unterstützenden Person abhängig ist.

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Um sicherzustellen, dass die Entwicklung automatisierter Fahrzeuge wirklich den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen entspricht, sind inklusive und partizipative Designprozesse unerlässlich. Dicianno et al. (2021) fordern die Einbeziehung behinderter Menschen in die Entwicklung und Erprobung von automatisierten Fahrzeugen. Ein Beispiel für eine solche Initiative ist das Projekt Trips, das sich auf die Entwicklung und Verbreitung eines Konzepts zur Gestaltung barrierefreier Verkehrssysteme unter Verwendung partizipativer Methoden konzentriert. Andere Projekte wie beispielsweise das Projekt Ride4All haben versucht einen Leitfaden zur inklusiven Gestaltung von autonomen Fahrzeugen zu schaffen. Ein partizipativer Ansatz trägt dazu bei, dass die Perspektiven dieser Nutzerinnen und Nutzer vollständig in das Endprodukt einfließen und Fahrzeuge, Dienstleistungen und Infrastrukturen tatsächlich barrierefrei sind. Durch die Einbindung der Nutzerinnen und Nutzer in den Designprozess können die Entwicklerinnen und Entwickler auf spezielle Belange eingehen und Funktionen einbauen, die sonst vielleicht übersehen würden.

Faktoren, die die Akzeptanz von automatisierten Fahrzeugen beeinflussen

Die Absicht von Menschen mit Behinderungen, automatisierte Fahrzeuge zu nutzen, wird von mehreren Schlüsselfaktoren beeinflusst, die unabhängig von den körperlichen Einschränkungen der Person sind. Laut Petrović et al. (2022) spielt die Wahrnehmung der Technologie selbst eine entscheidende Rolle bei der Ausgestaltung dieser Absicht. Das Vertrauen der Nutzer:innen in die Sicherheit, Zuverlässigkeit und allgemeine Funktionalität der AV hat einen großen Einfluss auf ihre Bereitschaft, diese Technologie anzunehmen. Darüber hinaus ist die Zugänglichkeit der Fahrzeuge – sowohl in Bezug auf das Design als auch auf die Einfachheit der Interaktion mit den Fahrzeugsystemen – ein entscheidender Faktor für die Akzeptanz.

Eine Studie von Classen et al. (2023) zeigt außerdem, dass eine positive Einstellung von Menschen mit Behinderungen gegenüber automatisierten Fahrzeugen mit weniger wahrgenommenen Barrieren und mehr wahrgenommenen Vorteilen für ihr Wohlbefinden einhergeht. Miller et al. (2022) stellten außerdem fest, dass Menschen mit Behinderungen barrierefreie Busse und andere Formen des öffentlichen Verkehrs erwarten, egal ob sie automatisiert sind oder nicht. Zu den wichtigsten Aspekten der Barrierefreiheit gehören ein sicheres und unkompliziertes Ein- und Aussteigen sowie die Möglichkeit, Hilfe zu erhalten. Die Erwartung ist, dass automatisierte Fahrzeuge nicht nur den aktuellen Standards für Barrierefreiheit entsprechen, sondern diese übertreffen, indem sie automatische Rampen, geräumige Innenräume und benutzerfreundliche Schnittstellen bieten, die eine Vielzahl von Behinderungen berücksichtigen.

Schlussfolgerungen

Die Einführung automatisierter Fahrzeuge im öffentlichen Personenverkehr geht mit erheblichen Veränderungen im Fahrzeugdesign und der Organisation dieses Transports einher. So ergibt sich die Notwendigkeit, etablierte Lösungsansätze im “traditionellen” öffentlichen Personenverkehr neu zu denken, aber es werden in diesem Zug auch Möglichkeiten eröffnet, bestehende Barrieren zu senken oder sogar abzubauen. Die Forschung über Fahrzeugautomatisierung und Menschen mit Behinderungen zeigt sowohl das Potenzial als auch die Herausforderungen dieser neuen Technologie. Der Erfolg der Nutzung des Potenzials der automatisierten Fahrzeuge zur Verbesserung der Mobilität und Unabhängigkeit wird davon abhängen, inwieweit die besonderen Bedürfnisse und Anliegen dieser Nutzergruppe, insbesondere hinsichtlich Sicherheit, Zugänglichkeit und Zuverlässigkeit, berücksichtigt werden. Zu diesem Zweck sollten Menschen mit Behinderungen in den Design- und Entwicklungsprozess einbezogen werden.

Akzeptanz von AVM ist ein Schwerpunkt von innocam.NRW. Sprechen Sie uns gerne bei Fragen und aktuellen Themenstellungen an. Sie erreichen uns per E-Mail unter justyna.sedkowska@innocam.nrw oder telefonisch unter 0208 88 254 5136.


Quellen

Classen, S., Sisiopiku, V., Mason, J. R., Stetten, N. E., Hwangbo, S. W., Kwan, J., & Yang, W. (2023). Barriers and facilitators of people with and without disabilities before and after autonomous shuttle exposure. Future transportation, 3(2), 791-807.

Cordts, P., Cotten, S. R., Qu, T., & Bush, T. R. (2021). Mobility challenges and perceptions of autonomous vehicles for individuals with physical disabilities. Disability and health journal, 14(4), 101131.

Dicianno, B. E., Sivakanthan, S., Sundaram, S. A., Satpute, S., Kulich, H., Powers, E., … & Cooper, R. A. (2021). Systematic review: Automated vehicles and services for people with disabilities. Neuroscience Letters, 761, 136103.

Escher, B., Peintner, J., & Riener, A. (2024, June). Beyond Automation: Exploring Passenger Cooperation and Perception in Teleoperated Shared Automated Vehicles (SAVs). In 2024 IEEE Intelligent Vehicles Symposium (IV) (pp. 1246-1251). IEEE.

Frank, L., Dirks, N., & Walther, G. (2021). Improving rural accessibility by locating multimodal mobility hubs. Journal of Transport Geography, 94, 103111.

Guillén, D. R., Soler, J. A. C., & Lucas, J. C. S. (2024). Transport accessibility for disabled people in the European Union. Journal of Infrastructure, Policy and Development, 8(4), 3445.

König, A., Seiler, A., Alčiauskaitė, L., & Hatzakis, T. (2021). A participatory qualitative analysis of barriers of public transport by persons with disabilities from seven European cities. Journal of accessibility and design for all: JACCES, 11(2), 295-321.

Miller, K., Chng, S., & Cheah, L. (2022). Understanding acceptance of shared autonomous vehicles among people with different mobility and communication needs. Travel Behaviour and Society, 29, 200-210.

Millonig, A., & Fröhlich, P. (2018, September). Where Autonomous Buses Might and Might Not Bridge the Gaps in the 4 A’s of Public Transport Passenger Needs: A Review. In Proceedings of the 10th international conference on automotive user interfaces and interactive vehicular applications (pp. 291-297).

Petrović, Đ., Mijailović, R. M., & Pešić, D. (2022). Persons with physical disabilities and autonomous vehicles: The perspective of the driving status. Transportation research part A: policy and practice, 164, 98-110.